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  Archiv · Nr. 5 · 1. Jhg. · 7. Oktober 1998

Archiv / Ausgabe 5 / Seite 1

Euphorie vertagt. Dennoch:
Deutschland in Aufbruchstimmung!

Deutschland staunt über sich selbst. Ein grandioser Wahlsieg von Rot-Grün wurde in dieser Art von kaum jemandem erwartet. Selbst die "linke" Berliner taz verlegte sich einige Wochen vor der Wahl darauf, die Stimmung gegen die PDS zu schüren: Alle glaubten, wenn die PDS in den Bundestag einzieht, reicht es für Rot-Grün nicht. Daß es dennoch reicht [und zwar dicke, wie ich einmal anmerken will, die Säzzerin], darüber waren die Rot-Grünen AkteurInnen wohl selbst etwas überrascht.
Die Fakten dürften hinreichend bekannt sein. Deshalb einige subjektive Anmerkungen zu diesem und jenem:

Der eigentliche Wahlsieger

Oskar Lafontaine ist es zu verdanken, daß die SPD in den letzten zwei Jahren Einmütigkeit demonstriert und praktiziert hat und somit für die sogenannte "neue Mitte" wählbar wurde. Er ist der eigentliche Wahlsieger.

Helmut Kohl, der Wahlverlierer, hat souverän verloren. Besser und fairer kann man eine solche Situation nicht meistern. Respekt vor Helmut Kohl, der zwar spät, aber sehr schnell begriffen hat, daß nun die Zeit seines Abgangs gekommen ist.
In den Unionsparteien setzte es reihenweise Rücktritte: Nachdem Helmut Kohl noch am Wahlabend seinen Rücktritt vom CDU-Parteivorsitz angekündigt hat folgten ihm der Generalpastor Hintze, der Anhaltiner Christoph Bergner, Kollege Nobi Blüm und alle wollen plötzlich nur noch brav und schön Abgeordnete sein. Besinnung ist angesagt. Zwei fehlen in dieser Aufzählung: CSU-Parteichef Theo Waigel und sein Generalsekretär. Deren Rücktritte sind besonders bedauernswert: ersterer, weil er mit wenig Geldeinsatz durch eine auf der Brille befestigte Schuhbürste parodiert werden konnte - die sogenannte "Waigel-Maske" - zweiterer weil er den größten Unterhaltungswert hatte. Protzner hat übrigens das Kunststück fertiggebracht, in der letzten Legislaturperiode als Abgeordneter nie im Bundestagsplenum zu sprechen.
Euphorie vertagt

Der offensichtliche Gewinner

Gerhard Schröder machte am Wahlabend auch nicht gerade einen euphorischen Eindruck. Er weiß wohl, was dieser Vertrauensvorschuß für ihn bedeutet. Er hat nun vier Jahre Zeit, die Weichen zu stellen. Bleibt zu hoffen, daß er die Zeit nutzt.

Joschi

Der zukünftige Vizekanzler

Joschka Fischer, im Züricher "Tagesanzeiger" bereits als "designierter Außenminister" betitelt, war gar nicht fröhlich nach der Wahl. Zumindest war der Eindruck so, als ob er schon jetzt unter der schweren Last der Vizekanzlerschaft erdrückt würde. Das Außenministeramt für Joschka Fischer könnte sich für die Bündnisgrünen nachteilig erweisen. Will Fischer Schröders Kinkel werden? Wollen die Bündnisgrünen ihren besten Mann als obersten Diplomaten der Republik abstellen? Er wird ihnen in der Innenpolitik fehlen.
Welchen Posten er auch bekommen mag, auf jeden Fall kann als sicher angenommen werden, daß er Vizekanzler wird. Dazu herzlichen Glückwunsch! Wir finden das gut!


BT1998, Sitzverteilung Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis kommen SPD und Bündnisgrüne auf zusammen 345 Abgeordnete; demgegenüber stehen 324 Sitze der Opposition, die aus CDU7CSU, F.D.P. und PDS gebildet wird. Die Kanzlermehrheit - also die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages - beläuft sich auf 335 Stimmen.


Der Politikwechsel

ändern wird sich ob dieses Wahlergebnisses erst einmal nicht viel. Der zukünftige Arbeitsminister Walter Riester, der von Gewerkschaftens kommt und alles andere als ein "Betonkopf" ist, hat vorsorglich schon mal darauf hingewiesen, daß die Arbeitslosigkeit zunächst auch noch steigen könnte.
Aber wer erwartet tatsächlich, daß sich von Heute auf Morgen merklich etwas ändert. Es sind kleine Schritte, die das Land auf einen anderen Weg bringen werden und es gilt abzuwarten, keine Wunder zu erwarten.
Der Atomausstieg wird unumkehrbar eingeleitet werden. Alles andere können sich die Bündnisgrünen gar nicht leisten, um nicht als "Umfaller" verspottet zu werden. Die Forschungsausgaben für die Solarenergie werden mit Sicherheit merklich angehoben werden. Auch mit Förderprogrammen ist durchaus zu rechnen. Bezahlbar wird dies mit Einsparungen in der Kernforschung und über eine - wie auch immer geartete - Energiesteuer.

Die Gleichberechtigung

Das Staatsbürgerschaftsrecht wird auf jeden Fall geändert. Weg vom Grundsatz des deutschen Blutes, hin zu einer Regelung, die dauerhaft hier lebenden Menschen das Recht gibt, einen deutschen Paß zu bekommen. Ein großer Schritt zur Integration der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und vielleicht ist dies auch ein Segen für den deutschen Fußball.

Für Lesben und Schwule wird eine eheähnliche Institution geschaffen werden, die den Alltag von Homo-Paaren erleichtern wird. Vom Miet- und Erbrecht, über das gegenseitige Besuchsrecht im Krankenhaus bis hin zum Zeugnisverweigerungsrecht werden sich Schwule und Lesben in dieser Gesellschaft nicht mehr benachteiligt fühlen müssen - eigentlich eine Selbsverständlichkeit.

In der Drogenpolitik werden Drogensüchtige zukünftig nicht mehr als Kriminelle abgestempelt, sondern adäquat behandelt: als kranke Menschen, die Hilfe brauchen, keine Gefängnisse.

Die Chance der Bildungspolitik

Das Hochschulrahmengesetz wird ein Verbot von Studiengebühren erhalten, so daß in Baden-Württemberg die 1000,- DM für sogenannte "Langzeitstudenten" so gut wie vom Tisch sind. Die Rückmeldegebühren kann allerdings auch die zukünftige Bundesregierung nicht verhindern, hierbei kommt es lediglich auf das Bundesverfassungsgericht an.
Die Studienfinanzierung wird sich sicherlich auch nicht zum schlechten hin entwickeln. Sei es durch eine BAföG-Reform, oder durch die Einführung des grünen BAFF-Modells.

In der Steuerpolitik wird es auf jeden Fall einen Richtungswechsel geben. Weg von den Einkommensmillionären, die es durch Abschreibungsmöglichkeiten schaffen können, gar keine Steuern zu bezahlen und hin zu einer gerechten Verteilung der Steuerlast.

Alles andere ist zur Zeit Spekulation und wird sich erst nach den Koalitionsverhandlungen beurteilen lassen.

Aber abgerechnet wird sowieso erst nach vier Jahren. Nicht früher.


 
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